Forschungsbereich Geschichte und Ethik in der Medizin
Tagungsbericht zur Tagung in Zwiefalten, 13. — 15.6.2012

 

Zentrum und Peripherie in der Geschichte der Psychiatrie. Württembergische Psychiatriegeschichte im regionalen, nationalen und internationalen Vergleich. Zwiefalten, 13.-15.6.2012

Tagungsbericht von Uta Kanis-Seyfried, Bernd Reichelt und Thomas Müller

Die Forschung zu Psychiatrie, Kultur und Gesellschaft in historischer Perspektive war für lange Zeit fokussiert auf die Geschichte der Anstalten und psychiatrischen Kliniken, sowie auf die Berufsgruppe der dort ärztlich Tätigen, nicht allein hinsichtlich der Psychiatrie des „klassischen“ Zeitalters des Anstaltsbaus der zweiten Hälfte des 19. und ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch hinsichtlich einer Geschichte der Psychiatrie generell -- als derjenigen des verordneten Zwangs in ‚totalen‘ Institutionen. Analysen angewandter Klassifikationssysteme psychischer bzw. psychiatrischer Erkrankungen, Falldarstellungen sich entwickelnder oder konkurrierender therapeutischer Verfahren gehören ebenfalls seit längerer Zeit zu den Beiträgen psychiatriehistorischer Forschung.

In der Ablösung der traditionellen Psychiatriegeschichtsschreibung ging es hiernach um die Behandlung der vermeintlich „Irren“ und Armen in allen Teilen der Welt, und in mehr oder weniger breit angelegtem Untersuchungsfeld; auch um die Argumente der Rechtfertigung hierfür sowie das Aufbegehren gegen entsprechende medizinische Legitimationsstrategien – aus dem Kreis der medizinischen Akteure zum Einen, und der Betroffenen zum Anderen - in Form der Patientengeschichte.

Regionen- und ländervergleichende Studien, die historiographische Annäherung des Stadt-Land-Vergleichs usw. sind eher der jüngeren Entwicklung zu verdanken. Ein verfeinertes Instrumentarium des systematischen Vergleichs und seiner neueren Spielarten und Erweiterungen, bereichert durch Einbeziehung philologischer oder allgemeinhistorischer Ansätze und solcher der Postcolonial Studies oder Subaltern Studies gar, ist in seiner Anwendung auf die Geschichte und den Umgang mit psychischer Erkrankung kaum jenseits der letzten Dekade auszumachen. Erst in jüngerer Zeit also finden vergleichende Perspektiven auf Beziehungen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten (von Ideen, Ideologien und Identitäten) zwischen ‚peripheren‘ psychiatrischen Therapieeinrichtungen und solchen, in den Zentren von Macht, Wissen und Gouvernementalität Eingang in dassample der gängigeren Forschungsansätze. Der Blick richtet sich nun immer öfter auch auf die interdependenten Dynamiken zwischen diesen Orten und Verortungen, auf (transnationale) Netzwerke der Akteure, deren Korrelate in Form bspw. wissenschaftlicher Fachzeitschriften, sowie auf zugehörige Konzepte und ihre medizinischen, therapeutischen oder sozialen Funktionen. Der sogenannte spatial turn in den Geschichtswissenschaften hat maßgeblich auch zu dieser Entwicklung in der Geschichte der Psychiatrie beigetragen. Es wurde offenkundig, dass letztendlich ‚periphere‘ Einrichtungen, Konzepte und Strategien der Psychiatrie weit weniger die Aufmerksamkeit der Historiographen erhalten hatten, als diejenigen, die in machtpolitisch, wissenschaftlich oder geographisch zentralen, urbanen Zusammenhängen generiert worden waren. Auch wurden regional charakteristische Konzepte, Praktiken - ‚Spielarten der Psychiatrie‘ - häufig übersehen, im Vergleich zu der Aufmerksamkeit, die denmainstreaming models zugedacht wurde. Die vermeintliche Marginalität dieser regionalen Besonderheiten wurde hierdurch nicht hinterfragt – sie wurde durch diese Fokussierung auf die ‚Mitte‘ vielmehr verstärkt und zuweilen gar historiographisch untermauert.

Durchbrochen wurde diese, wenn nicht ungewollte, so doch retrospektiv betrachtet nachteilige Engführung nun in der Folge durch veränderte und erweiterte Fragestellungen sowie jüngerer Erkenntnisse der Wissenschaftsgeschichte oder Science and Technology Studies. In einer etwas abstrakteren Lesart des Tagungsmottos waren die hier versammelten und unten im Einzelnen besprochenen Beiträge der Tagung in der von Thomas Müller (Ravensburg) geleiteten kleinen Forschungseinheit für Geschichte der Medizin auch auf koloniale Aspekte der Psychiatrie, auf globale versus lokale psychiatrische Praktiken, sowie den Vergleich akademischer mit nicht-akademischer Psychiatrie in staatlicher versus nicht-staatlicher Lenkung fokussiert – innerhalb wie außerhalb der emblematischen „Mauern der Psychiatrie“. In Hinsicht auf letzteren Aspekt waren verschiedene Wohn- und Lebensmöglichkeiten für psychisch Kranke in historischer Perspektive von besonderem Interesse, auch vor dem Hintergrund eines mehr oder weniger starken Einflusses medizinischer Laien auf die jeweilige Praxis. Die Lebenswirklichkeit der historisch Forschenden, insbesondere im Spannungsfeld der Bedienung der sogenannten Public History einerseits und der klassisch-akademischen Forschungskautelen der akademischen Medizingeschichte andererseits stand nicht zuletzt ebenfalls zur Diskussion.

Die Organisatoren der vom 13.-15. Juni 2012 in Zwiefalten anlässlich der Feiern zum 200-jährigen Bestehen der ersten „Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt“ stattfindenden, internationalen wissenschaftlichen Tagung hatten sich also eine Aufgabe gestellt, wie sie zu Teilen erst in allerjüngsten Forschungszusammenhängen und vereinzelt thematisiert wurde. Für die wissenschaftliche Annäherung an das Forschungsthema „Zentrum und Peripherie“ bot sich der Tagungsort der Zwiefalter Klinik als geographischer Ort geradezu an: im Süden Württembergs, tief in der Provinz am Fuß der Rauen Alb und weitab großer Städte und Verbindungsstraßen gelegen, gehört die 1812 gegründete psychiatrische Anstalt Zwiefalten (heute Standort einer Landespsychiatrie) neben Bayreuth, dem Pirnaer Sonnenstein und wenigen anderer (zumal heute noch existenter) Klinikstandorten zu den ältesten deutschen Einrichtungen für die Versorgung sogenannter Geisteskranker. Ihrem peripheren Standort zum Trotz war sie in den zwei Jahrhunderten ihres Bestehens immer wieder auch Zentrum zeitgenössischer Interessenlagen, Politik und Entwicklungen. Ihr Ruf begründete sich im 19. Jahrhundert vor allem auf einzelne hier tätige ärztliche Leiter und deren teilweise durchaus innovative Konzepte in Behandlung und Therapie der Patienten. Im 20. Jahrhundert war es die unrühmliche Rolle des Hauses als „Zwischenanstalt“ im Räderwerk der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Strategie, war es die Beihilfe zur Ermordung sogenannter geisteskranker und behinderter Menschen in der nahe gelegenen Tötungsanstalt Grafeneck, als auch die gezielte Tötung von Patienten durch Medikamente oder Nahrungsentzug in der Klinik selbst, die den bis in die 1920er Jahre dauernden, in vielerlei Hinsicht positiven Entwicklungen der sich zunehmend öffnenden Anstaltspsychiatrie im deutschen Südwesten ein vorläufiges Ende setzte. Eine neue Ausstellung zur Geschichte Zwiefaltens und Grafenecks im Rahmen der sogenannten NS-Euthanasie, sowie die umfassend erneuerte Dauerausstellung des Württembergischen Psychiatriemuseums am Klinikstandort, die auf diese Thematik zentral fokussieren waren so ebenfalls Gegenstand der wissenschaftlichen Debatte, und konnten während der Tagung ausführlich studiert und inhaltlich diskutiert werden.
Im Bewusstsein der wechselhaften Vergangenheit der Zwiefalter Anstalt bzw. der Psychiatrie im Allgemeinen und der damit verbundenen ethisch-wissenschaftlichen Verantwortung für das Geschehene, war der öffentliche Auftakt der Tagung dem Blick auf aktuelle Untersuchungen und Forschungsprojekte zur Geschichte des Hauses selbst gewidmet. Unter dem saloppen Titel „Neues aus der Vergangenheit“ gaben verschiedene Kurzreferate einen Einblick in die wechselhafte Geschichte der Zwiefalter Anstalt, im Rahmen der württembergischen Geschichte insgesamt.

In einem Streifzug durch zwei Jahrhunderte führte Uta Kanis-Seyfried (Ravensburg) das Publikum auch anhand bisher nicht zugänglichen, bilderreichen Quellenmaterials durch zwei Jahrhunderte der Zwiefalter Einrichtungen für psychisch Kranke und „geistig Behinderte“. Im Anschluss daran gab Bernd Reichelt (Zwiefalten/Ravensburg) einen Einblick in den Forschungsstand zur Psychiatriegeschichte Württembergs und nahm hierbei auch auf eine neuere, hauseigene Publikation Bezug („Nach dem Tollhaus. Zur Geschichte der ersten Königlich-Württembergischen Staatsirrenanstalt Zwiefalten“). Veronika Holdau und Martina Henzi stellten exemplarisch und stellvertretend für eine ganze Reihe von Promotionsprojekten ihre Forschungsergebnisse in kondensierter und kurzweiliger Form vor: zu dem in der NS-Zeit in Südwürttemberg tätigen Psychiater Maximilian Anton Sorg einerseits bzw. zu einem der Ärztlichen Direktoren Zwiefaltens der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Karl von Schaeffer, andererseits.

Einen zweiten Höhepunkt der öffentlichen Abendveranstaltung stellte die Einführung in die zweite Wechselausstellung dar, die zurzeit im Württembergischen Psychiatriemuseum zu sehen ist. Die an der Universität Innsbruck angesiedelte wissenschaftliche Arbeitsgruppe eines INTER-REG-Projekts der EU zur Geschichte derpsychiatrischen Landschaft des historischen Tirol stellte arbeitsteilig Inhalt, Auftrag, Konzeption und Umsetzung der Ausstellung „Ich lasse mich nicht länger für einen Narren halten“. Die Geschichte der Psychiatrie in Tirol – Südtirol - Vorarlberg– Trentino von 1830 bis in die Gegenwart“ vor. Lisa Noggler-Gürtler (Wien/Stans), Celia di Pauli und Eric Sidoroff, Maria Heidegger und Elisabeth Dietrich-Daum (alle Innsbruck) stellen die beeindruckende Ausstellung zunächst im Vortrag vor und führten anschließend durch die 200 Quadratmeter des Zwiefalter Gründerzeitbaus, in dem die Ausstellung vor ihrer Reise nach Norditalien und zunächst bis zum 30. September 2012 zu sehen ist. Die allein mit kunstvoll und kreativ konstruierten Möbeln und biografischen „Fallgeschichten“ arbeitende Ausstellung widmet sich dem Schicksal von 30 exemplarisch ausgewählten Psychiatriepatientinnen und -patienten, die im historischen Raum Tirols zwischen 1830 und den 1970er Jahren behandelt wurden, unter anderem in den Anstalten Hall i.T. und Innsbruck (heute Österreich), sowie Pergine bei Trento (Italien). Wie die Ausstellung verdeutlicht, sind die „psychiatrischen Landschaften“ Tirols und Südwürttembergs auch aufgrund des sog. deutsch-italienischen Optionsabkommens zwischen Hitler und Mussolini zwischen 1940 und 1942 aufs Engste miteinander verknüpft. Den Biografien der PatientInnen sind - zumeist passive - Verben zugeordnet, die das Schicksal der Betroffenen charakterisieren: begutachten – arbeiten – essen – behandeln – verwahren –töten – erziehen – verschicken. „Verschickt“ wurden (und nicht alle „optiert“ hatten) im Rahmen des genannten Optionsvertrages circa 500 Patientinnen und Patienten, zumeist aus dem heutigen Südtirol und via Hall in Tirol nach Württemberg – in die Heil- und Pflegeanstalten Zwiefalten, Schussenried und Weissenau. Auch andere, weitere Aspekte stellen interessante und zum Teil überraschende historische Verbindungen zwischen der Psychiatriegeschichte Tirols im 19. und 20. Jahrhundert, sowie derjenigen Zwiefaltens dar. Ein einschlägiger Beitrag zu diesem Kapitel psychiatriehistorischer Forschung im Rahmen der Veröffentlichung der Tagungsbeiträge ist vorgesehen.

Nach diesem öffentlichen Tagungsauftakt folgten zwei Tage nicht-öffentlicher, intensiver Debatte der Forschungsbeiträge von 11 Referentinnen und Referenten - zum Tagungsthema:
In der ersten Sektion unter dem Motto „Psychiatriegeschichte in Württemberg“ stellte Julia Grauer (Tübingen), die Ergebnisse ihrer Untersuchung der „Privatirrenpflegeanstalt“ der Wundärzte Irion und Koch in Fellbach, 1843-1891, einer akademischen Qualifikationsarbeit unter der Leitung von Albrecht Hirschmüller vor, insbesondere im Hinblick auf die personellen und institutionellen Verhältnisse in einer solchen Anstalt im Vergleich zu größeren und vor allem (der Diagnostik und Therapie in räumlich benachbarten) staatlichen Anstalten. In diesem Zusammenhang wurden die Biographien der beiden Wundärzte vorgestellt, die gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie die örtlichen Gegebenheiten in Fellbach untersucht, die Patientenunterlagen ausgewertet und beispielhaft drei Krankengeschichten nachgezeichnet. Grauer konnte anhand ihres Untersuchungsgegenstands (fehlende Vergleichsstudien) eindrücklich auf bestehende Lücken der deutschen Psychiatriegeschichtsschreibung hinweisen.

Uta Kanis-Seyfried (Ravensburg) stellte in ihrem Referat zum Thema „Erbfeindschaft, Kriegsbegeisterung und die ‚Post aus dem Schützengraben‘ “ die württembergische Anstaltszeitung „Schallwellen“, vor, die in den Jahren 1897 bis 1936 in der Heil- und Pflegeanstalt Schussenried herausgegeben wurde. Am Beispiel von in der Zeitung veröffentlichten Gedichten, Lebenserinnerungen, Kommentaren und Briefen wurde zunächst die Vernetzung von Mikro- und Makrogeschichte, d. h. die Einbettung des Individuums und seiner Lebenswelt in systemisch konstruierte Wirklichkeitsbereiche (u.a. Politik, Institutionen und Marktwirtschaft) bzw. in zeitgenössische gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen verdeutlicht. Fokussiert auf das Tagungsthema zeigte sich bei näherer Betrachtung, dass die Vorstellungen von „Zentrum“ und „Peripherie“ wechselseitige Beziehungen eingehen und austauschbar sind. Ein Beispiel: Verortet man den Herstellungsort der Zeitung in Schussenried zunächst als Peripherie – allein die ländlich-provinzielle, geografische Lage des Ortes fernab großer Städte und ausgebauter Verbindungswege rechtfertigt die Standortbestimmung – so ändert sich diese Situierung mit Beginn des Ersten Weltkriegs. Für die an die Front bei Frankreich und Belgien eingerückten ehemaligen Mitarbeiter der Anstalt wurden das ‚heimatliche‘ Schussenried und die ihnen in die Schützengräben nachgeschickte Zeitung zum Zentrum, d.h. zum Inbegriff von Heimat, von emotionalem (Lebens-)Mittelpunkt, auch als Hort der ‚Sicherheit‘ und Erinnerungs-Ort an ein sogenanntes geregelten Dasein in vertrauter Umgebung. In den Augen der Daheimgebliebenen wiederum befinden sich die Soldaten sowohl in der Ferne (Peripherie) als auch im Zentrum (militärischen und weltpolitischen) Geschehens. Letztendlich beeinflusst und bestimmt die Blickrichtung der historischen Akteure, aber auch die Sicht des Forschers und der jeweilige Sinnzusammenhang, wo jeweils – auch in dynamischer Verschiebung - „Zentrum“ und wo „Peripherie“ zu verorten sind. Interpretatorisch lassen sich unter diesem Fokus neben der geografischen Ebene eine ganze Reihe weiterer Ebenen (u.a. der kulturellen, individuellen, psychologischen oder derjenigen der Mentalität) fassen: Mit der Etablierung einer eigenen Zeitung mit durchaus anspruchsvollen Inhalten hatte eine spezifische intellektuelle, urbane Bürgerkultur (Zentrum) in der Provinz inhaltlich Fuß gefasst (Peripherie): Dabei finden zentrale, ideologisch besetzte Vorstellungen wie die im Deutschen Reich - neuerer Forschung zufolge eventuell auch nur vermeintlich - verbreitete nationale Kriegsbegeisterung und der Topos von der deutsch-französischen Erbfeindschaft Ende des 19. Jahrhunderts ebenso Eingang in die Texte, wie die in der Zeitung veröffentlichten individuellen Reflexionen der Verfasser von Feldpostbriefen, die immer wieder das Verhältnis von Heimat und Ferne bzw. den Einfluss des Befremdenden bzw. Fremdbestimmten auf das Eigene, Individuelle, Vertraute thematisieren.

Cay-Rüdiger Prüll (Mainz) befasste sich in seinem Vortrag mit dem Tagungsthema Zentrum und Peripherie in Hinsicht auf die benachbarte, badische Psychiatrie. In seinem Beitrag „Zur Geschichte der Kliniken in Freiburg und Emmendingen, 1850 bis 1945“ zeigte Prüll am Beispiel der Region Freiburg und ihrer beiden psychiatrischen Einrichtungen: dem psychiatrischen Krankenhaus Emmendingen und der Freiburger Universitätsklinik, dass die Bindung von Zentrum und Peripherie an unterschiedliche psychiatrische Konzepte Überschneidungen aufwies, die auch unterschiedliche Spielräume eröffneten. Dabei wurde Prüll zufolge zugleich die Gewichtung von Zentrum und Peripherie in Abhängigkeit vom politischen Kontext zwischen den verschiedenen Akteuren immer neu ausgelotet – ein Befund, der nach bisherigem Wissen für wesentliche Teile der Psychiatriegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts auch verallgemeinert werden könne.

Heiner Fangerau (Ulm) ging in seinem Beitrag „Handlungsspielräume in der psychiatrischen Peripherie: Die Volksnervenheilstätten-Bewegung, 1900 bis 1920“ auf das beginnend im 19. Jahrhundert sich ausbreitende Krankheitsbild der sogenannten Neurasthenie ein sowie auf die konstitutionellen Versuche, diese psychische Störung außerhalb der etablierten Heil- und Pflegeanstalten, quasi an deren Peripherie, in privaten Sanatorien und Spas, zu behandeln. Unter dem Begriff der Neurasthenie, über dessen changierende Definitionen auch H.G. Hofer und P. Lerner hingewiesen haben, waren Symptome wie Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit oder konstante Erregung zusammengefasst. Die Erkrankung selbst wurde, wie Fangerau am Beispiel der Einrichtungen der Göttinger Rasemühle (Provinz Hannover) zeigte, als körperliche und seelische Reaktion mit den sich drastisch verändernden Lebensumständen im Zuge des industriellen Zeitalters in Verbindung gebracht, wobei entsprechende Therapieangebote sich zunächst nur an großbürgerliche und vor allem zahlungskräftige Kunden richteten. Da aber bald deutlich wurde, dass auch die unteren sozialen Klassen an Neurasthenie litten, warnten mehrere Psychiater vor einer Chronifizierung des Leidens und der darauf folgenden großen Zahl arbeitsunfähiger Kranker. So forderte der Göttinger Professor August Cramer für die untere Klasse so genannte "Volksnervenheilstätten", die vom Staat bezahlt werden sollten. In diesem Beitrag analysierte Fangerau die Entwicklung der Volksnervenheilstätten in Deutschland zwischen 1900 und 1920 als Versuch, eine „erste Verteidigungslinie“ in der Peripherie der psychiatrischen Krankenhäusern zu schaffen, die chronischen psychiatrischen Erkrankungen vorbeugen und deren „Eindringen“ in zentrale psychiatrische Einheiten verhindern sollte.

Der Beitrag Sebastian Kesslers (Ulm) eröffnete die II. Sektion dieser Tagung, die der deutschsprachigen“Psychiatriegeschichte in interregionaler bzw. deutsch-kolonialer Perspektive“ gewidmet war. Kessler stellte ein Projekt, zusammen mit Heiner Fangerau, vor, dessen Erkenntnisinteresse sich auf die „Auswirkung von Stadt-Land-Beziehungen auf psychiatrische Fallzahlen und Diagnosespektren in Zeiten von sozioökonomischen Krisen“ konzentriert. In diesem historisch-epidemiologischen Beitrag vertrat Kessler die These, dass die Fallzahl von psychiatrischen Patienten im ländlichen Gebiet im Verlauf von sozioökonomischen Krisen sowohl ansteige, als auch, dass Diagnosen von geistigen Erkrankungen zunähmen, die im Zusammenhang mit Armut und sozialer Ungleichheit stünden. Zur Diskussion dieser These wurden die Standlisten der Psychiatrie Günzburg während der ersten Weltwirtschaftskrise von 1929 (Untersuchungszeitraum 1929-1931), sowie der zweiten Weltwirtschaftskrise von 1973 (Untersuchungszeitraum 1973-1975) ausgewertet. Ergänzend wurden in signifikantem Umfang Patientenlebensläufe aus Krankenakten aufgearbeitet, um hieran der Frage nachzugehen, inwiefern die psychischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen mittelbar aus der sozioökonomischen Krise resultierten und ob ein Umzug von der Stadt in die ländliche Umgebung (der untersuchten Region Günzburgs, im bayrischen Schwaben) nachzuweisen war.

Monika Ankele (Hamburg) ging in einer „Chronik der Linie. Über die Annäherung von Zentrum und Peripherie am Beispiel der Krankenanstalt Langenhorn bei Hamburg“ der Frage nach, inwieweit bei der Planung und Errichtung einer psychiatrischen Anstalt auch verkehrstechnische Überlegungen mit einbezogen wurden, und welche Argumente bezüglich der Anbindung einer Krankenanstalt an ein städtisches Zentrum wie auch an umliegende Gemeinden vorgebracht wurden. Den Fokus auf Bewegungen – welcher Art auch immer – zu legen, die sich zwischen Peripherie und Zentrum bzw. wie hier zwischen Anstalt und Stadt vollziehen, bedeutet zugleich auch - wie der Beitrag auf beeindruckend kreative Art und Weise zeigen konnte: psychiatrische Anstalten nicht als „Welten für sich“ zu denken, sondern sie – im übertragenen, wie auch im wortwörtlichen Sinne – an die (Außen-)Welt anzubinden, sowie vice versa deren Nutzungsverhalten der Anstalt in den Fokus zu nehmen. Ein weiterer Aspekt der Forschungen von Ankele weist auf die sich verändernde Selbst- und Fremdwahrnehmung der damaligen psychiatrischen Anstalten bzw. der sie Vertretenden / Beurteilenden: Ursprünglich „peripher“ konzeptioniert und etabliert (außerhalb der Metropole) wurden die Einrichtungen, auch infolge von Industrialisierung- und Urbanisierungsprozessen zunehmend „zentrums-nah“ – die von Ankele ins Spiel gebrachte Symbolik der „Linie“ wurde als solche: „kürzer“. Dies korrespondiere Ankele zufolge auch mit dem Wandel der Wahrnehmung und dem zunehmenden Wunsch von Angehörigen der PatientInnen sowie Angestellten der Einrichtung, die eine (infrastrukturelle) Anbindung an das Zentrum geradezu herbeizusehnen schienen. Abstrahierend von den präsentierten Beispiel dieses Beitrags kann also gesagt werden, dass „Zentrum und Peripherie“ oft ‚nur relativ‘ zu denken seien, da sie einem ständigen Wandel unterzogen sind - und bleiben.
STEFAN WULF (Hamburg/Berlin) berichtete von 32 Fällen aus dem historischen Krankenakten-Bestand der Irrenanstalt Friedrichsberg in Hamburg, bei denen die Patienten unmittelbar vor Aufnahme in die Anstalt aus den afrikanischen Kolonialgebieten zurückgekehrt waren. Dies betraf unter anderem Offiziere, Soldaten oder Kolonialbeamte. Die überlieferten Krankengeschichten und Gutachten machen es möglich, Wahrnehmung, Deutung sowie Be- und Verhandlung des Wahns auf drei Ebenen zu fassen: erstens in der Kolonie, zweitens in der Hamburger Anstalt sowie drittens während der Schiffs-Passage als einer spezifischen Schwellenphase zwischen kolonialer Peripherie und europäischer Kolonial-Metropole. Dadurch wurde, Wulf zufolge, ein „Changieren“ des Wahns im Kontext stark differenter Räume und Bedingungen sichtbar, eine wiederholte Verschiebung der (ärztlichen) Perspektiven und Zielsetzungen im Umgang mit den Betroffenen. Die im Vergleich zu anderen Kolonialmächten divergierende Situation des Deutschen Reichs ‚nach Versailles‘ wurde abschließend ebenso diskutiert, wie der Beginn der Versuche mit künstlicher Malariainfektion bei progressiver Paralyse in der Friedrichsberger Anstalt.
Die Beiträge von Ankele und Wulf sind Bestandteil der Ergebnisse verschiedener DFG-Projekte unter Leitung von Peter Schmiedebach (ebenfalls Hamburg).

Waltraud Ernst (Oxford/UK) sprach über „Centres, Peripheries and Transnational Psychiatries: The Case of British India, c. 1925 – 1940”. Nachdem im Beitrag von Wulf medizinhistorische Beziehungen deutscher Kolonien und ihrer Bewohner zum Reich im Mittelpunkt standen, konnte nun ein vergleichender Blick auf das Vereinigte Königreich und seinen indischen Kolonialraum geworfen werden. Den Fokus ihrer Ausführungen legte Ernst auf die verschiedenen Sichtweisen der jeweiligen Akteure auf die ‚indische Psychiatrie‘ vor dem Zweiten Weltkrieg. Hierbei, so Ernst, zeigten sich jeweils deutliche Unterschiede sowohl zwischen Ideen und Haltungen britischer Regierungsvertreter und Ärzten im Mutterland (Zentrum), den Praktizierenden in der indischen Kolonie (Peripherie), als auch zwischen britischen Psychiatern mit Arbeitsort in Indien und deren westlich ausgebildeten Kollegen. West gegen Ost-Divisionen und die Zentrum-Peripherie-Dichotomie fanden darüber hinaus in Gesundheitspolitik und professioneller Akkreditierung ihren Niederschlag und beeinflussten Wahrnehmungen und Beziehungen zwischen dem indischen und britischen medizinischen Personal in der Kolonie.

„Die Psychiatriegeschichte jenseits des Nationalstaats“ war Gegenstand der III. Sektion dieses Tagungsprogramms, deren erster Beitrag der Zeit des Nationalsozialismus gewidmet war: Thomas Müller (Ravensburg) stellte in seinem Beitrag zur „NS-Psychiatrie im deutschen Südwesten. Internationale Verwicklungen der Akteure – transnationaler Blick auf NS-Deutschland“ Methoden, ‚Gegenstände‘ und Erkenntnisinteresse eines noch jungen Forschungsprojekts vor, an dem mehrere Forscherinnen und Forscher beteiligt sind. Erste Ergebnisse wurden vorgestellt, ein aktueller Stand der Teilprojekte referiert. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die Geschichte der südwestdeutschen Psychiatrie im Nationalsozialismus, ihre Vorbedingungen, wesentliche Entwicklungsschritte sowie Konsequenzen für die Medizin. Vor dem Hintergrund bekannter, auch überregionaler bzw. internationaler Forschungsarbeiten zum Thema werden regionale Besonderheiten und Fallstudien, quasi als sog. mikrohistorischer Beitrag, der Forschung beigestellt. Im zweiten Teil diskutierte Müller lebensweltliche Aspekte medizin- und psychiatriehistorisch Arbeitender - und veranschaulichte dies wiederum am eingangs vorgestellten Projekt zur Thematik der Psychiatrie im Nationalsozialismus. Die Betrachtung des Spannungsfelds psychiatriehistorischer Forschung zwischen öffentlichem Interesse am Thema (Mahnmal-Debatte zur „Euthanasie“ usw.) und den Zielen akademisch-wissenschaftlichen Arbeitens zum Gegenstand schloss auch die Problematik zeitgeschichtlichen Arbeitens an und für sich (und damit die Problematik der Arbeit mit Zeitzeugen, Angehörigen von Opfern, mit psychiatrisch erkrankten Tätern) sowie die mediale Präsenz und Repräsentanz dieser Themen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit mit ein.

Akira Hashimoto (Nagoya/Japan) ging in seinem Vortrag auf die engen Beziehungen deutscher und japanischer Psychiatrie ein. In seinem Beitrag zum Thema „Japanische Psychiater zwischen den akademischen Zentren der Psychiatrie der westlichen Hemisphäre. Uchimura Yushi (1897-1980) und seine Zeitgenossen“ fokussierte er auf jene, bisher wenig bearbeitete Phase der Psychiatrie Japans, die bereits von einer beginnenden Ablösung der japanischen Psychiatrie von der deutschen Academia, und eine Hinwendung zur nordamerikanischen Medizin geprägt war. Allerdings fokussierte Hashimoto hier mit der Wahl seines Untersuchungsgegenstands und im Sinne einer Kontrastierung auf jene informelle Gruppe japanischer Ärzte, die an deutschen Konzepten, Lehren, an der Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen festhielten. Vor allem Uchimura Yûshi, der von 1923 bis 1925 in München studierte und 1936 zum ordentlichen Psychiatrieprofessor der Universität Tokio ernannt wurde, erwies sich auch nach akademischer Umorientierung hin zum Angelsächsischen als einer der führenden Vertreter der deutschen Psychiatrie in Japan. Hashimoto nahm ausführlich zu weiteren deutsch-japanischen Wissenschaftsbeziehungen der Psychiatrie Stellung, und skizzierte auch den Einfluss dieser Beziehungen auf Lehrstuhlbesetzungen exemplarisch. Unter dem Einfluss der Lehren Kraepelins, auch Kretschmers und anderer deutscher Psychiater und Lehrbuchautoren bezog er auch ethnografische und epidemiologische Studien in seine Arbeit ein. Während die Dominanz der deutschen Psychiatrie im Nachkriegsjapan zunehmend als schwächer zu beurteilen ist, blieb Uchimura, wie Hashimoto formulierte: ‚germanophil‘. In autobiographischen Zeugnissen (1968) betonte er in für deutschsprachige Historiker nicht unvertrauter Wortwahl der Zeitgenossen, dass „die deutsche Psychiatrie im Verstehen der menschlichen Seele“ viel vollkommener sei als die amerikanische Psychiatrie“.

Akihito Suzuki (Yokohama/Japan) porträtierte und anaylsierte in seinem Vortrag „The pathology and the self of middle-class in early-20th-century Tokyo. Psychiatric Surveys of Peripheral Populations in Japan in the 1930s and 40s” die Entwicklung japanischer psychiatrischer Forschung und das Erschließen neuer Zusammenhänge und Problemstellungen der Akteure derselben, die schließlich in den 1950er Jahren in Theorie, politischen Entscheidungen sowie im wissenschaftlichen Diskurs ihren Niederschlag fanden. Ausgangspunkt war die in den 1930er und frühen 1940er Jahren begonnene Untersuchung von Geisteskrankheiten in vor-definierten ‚Gruppen‘ (Kriminelle, Prostituierte und geistig behinderte Kinder) sowie die psychiatrische Untersuchung von Kranken in geografischen Randgebieten, wie etwa auf kleineren Inseln oder in abgelegenen Dörfern Japans. In diesem Zusammenhang wiederum machte besonders der bereits von Hashimoto im vorausgehenden Beitrag hervorgehobene Psychiater Uchimura Yûshi von sich reden. In seine Forschungskonzeptionen zum Verständnis sogenannter Geisteskrankheiten der Ethnie der Ainu aus dem Jahr 1938 sowie der psychisch Kranken der Inseln Hachijô und Miyake, um 1940, flossen auch evolutionstheoretische sowie eugenische Ideen und Vorstellungen ein, die in der deutschen Psychiatrie zum Repertoire gehörten. Suzuki konnte plausibel aufzeigen, in welch überraschendem Maß die Entwicklung und Konzeptionierung der japanischen Psychiatrie seines Untersuchungszeitraums von der Idee, der Umsetzung und den Ergebnissen der „psychiatric surveys“ peripherer Gesellschaften, peripher-geographischer Räume und marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen geprägt war. Als stärkster Einfluss der im internationalen Vergleich lange Zeit prominenten deutschen Psychiatrie in Japan war Suzukis Ansicht nach die Anlehnung an die Idee eines standardisierten diagnostischen Systems zu verzeichnen. Ganz besonders interessant für die Historiker der deutschen Psychiatrie war an beiden Referaten der japanischen Kollegen Hashimoto und Suzuki, wie deutlich sich japanische Psychiater von radikaleren Vorschlägen zur Umsetzung eugenischer Prinzipien distanzierten: Eine deutlicher dem Patient und seiner Familie verpflichtete Medizin scheint hier Suzuki zufolge ein Aspekt zu sein, der sich von der Haltung deutscher Ärztinnen und Ärzte stark unterscheidet.

Ein globales Ziel der Konferenz war die forcierte Annäherung an das Thema im interdisziplinären Dialog. Die genannten Teilnehmenden sind ‚beheimatet‘ in der Allgemeingeschichte, der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte, den Empirischen Kulturwissenschaften, den Medienwissenschaften, der Museologie, der Kunst(-geschichte), der Architektur sowie der Anthropologie. Die intensivierte langfristige Kooperation der Teilnehmenden an dieser Tagung untereinander verspricht äußerst fruchtbar zu werden, die Veröffentlichung der zentralen Tagungsbeiträge ist in Vorbereitung.

Weitere Informationen zu dieser Tagung unter:
Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Müller
Leiter des Forschungsbereichs Geschichte der Medizin Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg / Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie I der Universität Ulm Weingartshofer Strasse 2
88214 Ravensburg-Weissenau
Tel.: 0049-(0)751-7601-2217 (Sekr.: -2519/ -2256)
eMail: th.muellerzfp-zentrum.de
Internet: http://www.forschung-bw.de/history.html

 

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